Diario de Plantas
9. November 2021. Gabriel Orozco (1962, Jalapa, Mexiko) wird von einem Blatt getroffen. Er steckt dieses Blatt – und sechs weitere, zur Sicherheit – in seine Tasche und skizziert sie dann in seinem Tagebuch. 20. April 2022. Orozco hat 724 Blütenblätter, Wedel, Hochblätter, Nadeln, jede Pflanzenart, die ihm zu Füßen gefallen ist, gezeichnet. Diario de Plantas reproduziert, im Originalmaßstab, dreiunddreißig der Pflanzen-Tagebücher des Künstlers, die zwischen Tokio und Acapulco entstanden sind, und verfolgt die Entwicklung seiner Figuration vom geometrischen Realismus biologischer Diagramme bis zu einem blühenden, organischen Impressionismus, der mit den Blättern selbst dargestellt wird. In zwei Bänden, gedruckt auf Bibelpapier und in einem Schuber gebettet, führt Orozco das Genre des botanischen Reiseberichts aus dem achtzehnten Jahrhundert zu neuen Zwecken: Er tauscht die allwissende, weltumspannende Enzyklopädie von Linnaeus und seinen Mitstreitern, den Herren-Naturforschern, gegen eine Verzauberung ein, die dem nahekommt, was der Dichter Francis Ponge „l’être végétal“ (pflanzliches Sein) nannte.